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"Night Hunter´s Quest" Leseprobe


Designerin: Ria Raven

(Auch als epub Download direkt auf der NHQ-Seite hier auf der Website)

JÄGER

⸗ Vor 13 Jahren ⸗


»Wenn du hier wegkönntest«, fragte Mira leise in die Nacht und fasste ihr Schwert fester, »welchen Ort würdest du besuchen wollen?« Keine Sekunde nahm sie den Blick von dem Schatten, der zwischen den Fachwerkhäusern lauerte.

Nicolas schnalzte mit der Zunge und drückte sich näher an den Rücken seiner Teampartnerin. Er lief rückwärts, gab ihr Deckung. »Beschäftige dich mit dem, was du hast und das sich zu schützen lohnt.«

»Sagt der, mit der perfekten Frau und Tochter«, brummte sie. »Rechts!«

Nicolas folgte ihrer Drehbewegung und behielt die Gasse im Auge. Er hörte sie auf dem Kopfsteinpflaster, die leisen Schritte. Das Kratzen von Klauen auf Stein.

»Ihr seid die perfekte Jäger-Familie. Weißt du, wie meine Auswahlmöglichkeiten aussehen?« Mira deutete die Gasse hinunter zur Bäckerei. »Der Bäckersohn, unser Lieferant, fünf aus der Klinik, drei aus der Entwicklung und  –«

»Mira!«, zischte Nicolas. »Konzentrier dich.«

»Ich will doch nur jemand Neues kennenlernen und die Schmetterlinge spüren! Ich kenne jeden hier seit meiner verdammten Geburt.«

»Du warst gut genug, um dich für ein externes Studium zu bewerben. Doch du wolltest Jägerin werden.« Nicolas hob seine Waffe, als der Schatten über die Straße rannte und zwischen den nächsten Häusern eintauchte. Das Monster war zu schnell.

»Ich kann doch nicht einfach so die Tradition brechen«, Miras Stimme überschlug sich vor Empörung. »Meine Bewertungen sprechen für sich: Ich gehöre zur Elite.«

»Und deswegen wirst du auch für immer hierbleiben.« Nicolas drehte sein Handgelenk und schielte auf die Uhr. Drei Stunden bis Sonnenaufgang. In zehn Minuten beendeten sie ihre Route im Innenort und würden das Team im äußeren Kreis ablösen.

Der Schatten kroch aus der Gasse. Nicolas hob die Waffe, doch es zog sich zurück, bevor er schießen konnte.

»Sie sind unruhiger als sonst.«

»Nein. Hungriger.« Mira stieß ihn mit dem Ellenbogen an. Das Zeichen, dass vor ihr etwas war. Ein weiterer Stoß. Zwei Sichtungen. Drei. Vier, mit dem Schatten, den Nicolas im Auge behielt.

Mit angehaltenem Atem ließen sie die Monster näher kommen.

Mira schoss, um sie zu verlangsamen. Nicolas stürmte vor und schlug dem Erstbesten den Kopf von den Schultern. Es zerfiel zu den Schatten, aus denen es kam.

Hauptsache, nichts drang in die Häuser ein.

Hauptsache, die Türen und Fenster waren fest verschlossen und die feinmaschigen Gitter an den Schornsteinen verankert!

»Mach dich bereit zur Drehung«, raunte Mira. »Ich schnapp mir deines. Du betäubst meine.« Sie zog ihre Schwertspitze über das Kopfsteinpflaster. Ein leiser Schrei in der Dunkelheit antwortete.

Vor Nicolas sprang eine gedrungene Gestalt mitten auf den Weg und fixierte ihn. Die tellergroßen Augen reflektierten das Mondlicht silbern. Als Nicolas zielte, presste Mira ihren Rücken gegen seinen und verstärkte den Druck nach rechts. Synchron drehten sie sich um, als die Gestalt sprang. Miras Schwert surrte durch die Luft. Während der Körper schwer und mit einem Flatsch auf dem Kopfsteinpflaster aufschlug, schoss Nicolas auf zwei andere Gegner. Sie kreischten. Die spindeldürren Beine knickten ein.

»Los«, murmelte Nicolas und hielt Ausschau nach dem Letzten, während Mira an ihm vorbeirannte, um Köpfe abzutrennen.

Die Stille nach dem Kreischen klang beruhigend.

»Lass uns weitergehen. Auf die eine Plage kommt es nicht an«, sagte Mira, als sie an seine Seite zurückkehrte und sich erneut Rücken an Rücken stellten. Im Rückwärtsgang folgte Nicolas der Richtung, die seine Partnerin einschlug.

»Ruhig und klar breitet sich die Nacht um die Jäger aus«, flüsterte Mira mit tragender Stimme. »Routiniert schützten sie den friedlichen Schlaf ihrer Nachbarn. Im Kampf gegen das Böse riskieren sie Leib und Leben.«

Nicolas unterdrückte ein Lachen, um sie nicht zu mehr Unsinn anzustacheln. »Niemand wird einen Film über uns drehen, Mira.«

»Wir hätten es verdient«, brummte sie und trat gegen einen Stein.

Nicolas sparte sich eine Antwort.

Sie hätten es verdient! Jeder von ihnen. Vom Jäger bis zum Kleinkind. Doch wie die Nacht auf Film einfangen, wenn nur die Jäger in der Finsternis durch die Straßen wandelten? Wie die Zuschauer am Ball halten, wenn es kein Ende der Geschichte gab? Wenn der Kampf ewig andauerte und die Gegner immer gleich blieben?

Die beiden Jäger erreichten die letzten Reihen der Fachwerkhäuser des Dorfes. Pflasterstein wandelte sich in Asphalt. Sie folgten dem Hügel hinauf, bis die Serpentinenstraße und die Ruinen der alten Mauer wie abgebrochene Zähne vor ihnen aus dem Gras ragten.

Sie folgten dieser Grenze, setzten ihre Schritte leichter als zwischen den Schatten der Häuser. Hier konnten sie nebeneinander laufen. Links die Serpentinenstraßen, die zu den Getreide- und Weidefeldern führten. Rechts ihr Zuhause. Dahinter das silbern schimmernde Meer im Vollmondlicht.

Nicolas dachte an seine wunderschöne Frau und lächelte. Im kommenden Jahr könnte er wieder mit ihr die Nacht durchstreifen. Als Team. Keine versetzten Dienste mehr. Dann wäre seine kleine Tochter alt und verständig genug, um nach Sonnenuntergang allein zu sein.

Plötzlich schrie Mira auf und stürzte bäuchlings auf das Gras. Etwas klammerte sich um ihre Beine, zog sich an ihren Hosen bis zum Rücken hinauf. Es sah anders aus als sonst. Ein spitz zulaufender Kopf, kräftige Arme an Ober- und Unterkörper.

Nicolas hob die Waffe und schoss.

Anstatt des Gegners traf er Mira, deren Schreie verstummten. Nur der verblüffte Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb.

Der spitze Kopf wandte sich Nicolas zu. Es öffnete sich wie eine Blüte aus Blut und Zähnen.

Nicolas schoss. Die Kugeln rissen kleine Löcher in die pergamentdünne Haut des schlanken Körpers. Andere Plagen liefen davon. Dieses blieb stehen.

Nicolas Waffe klickte im Leerlauf.

Die Plage setzte zum Sprung an und erstickte seinen Schrei mit dem triefenden Maul.

Nicolas spürte die winzigen Zähne um seinen Kopf. Die Klauen, die sich ihm in den Rumpf bohrten und ihn bei lebendigem Leib aufrissen.


MAX

⸗ Neuanfang ⸗


»Wurde er wieder gekündigt?«, tobte Max’ Vater im Hintergrund.

Seufzend beobachtete Max die Menschen, die ihn auf der Einkaufsstraße überholten.

»Du musst dieses Spiel löschen. Es zerstört dein Leben. Merkst du das nicht?«, donnerte seine Mutter wie ein Feldwebel.

Max legte auf, bevor sich seine Eltern komplett in Rage reden konnten. »Ihr zerstört mein Leben mit euren Idealen.«

Seit der Grundschulzeit fühlte er sich nicht mehr mit ihnen verbunden. Immer erwarteten sie Dinge, die er hasste. Mit acht Jahren hatten sie Max genötigt, einem Fußballverein beizutreten, und ihn später zu einem Forstwirtschaftsstudium gedrängt.

»Es ist perfekt für dich, mein Schatz«, hatte seine Mutter gesäuselt und ihn für die Uni eingeschrieben. »Nach der Uni hast du wenig Kontakt mit anderen Menschen, was deinen Wünschen entspricht, und du kommst endlich mal raus an die frische Luft!«

Max hatte versucht, es ihnen recht zu machen. Immer und immer wieder. In ihren Augen war er niemals gut genug.

Mitten im vierten Semester brach er das Studium ab. Danach beachteten seine Eltern ihn und sein stetiges Scheitern auf der Suche nach sich selbst mit regem Interesse. Würde sein Vater erfahren, dass man ihn bei der Reinigungsfirma wegen eines Schläfchens im Materiallager gefeuert hatte … Er würde ihm den Geldhahn zudrehen und ihn zwingen, zurück in sein Kinderzimmer zu ziehen. Sie würden den Internetvertrag kündigen und ihm die Möglichkeit zum Spielen nehmen.

»Mach mehr aus dir«, zitierte Max seine Eltern und erreichte endlich das letzte Fenster der Galerie, aus der er wegen Unpünktlichkeit rausgeflogen war. In der Spiegelung verglich er seinen Körper mit denen der Passanten. Er war kleiner als die meisten Männer und schlank wie die hungernden Mädchen, die schwatzend vorbeiliefen.

»Tu dies, tu das«, fuhr Max fort und strich die Finger durch seine wasserstoffblonde Strubbelfrisur. Er sah seine Eltern kaum, obwohl sie in derselben Gegend wohnten. Sie sprachen übereinander hinweg und aneinander vorbei.

Max steckte die Hände tief in die Taschen und starrte auf die auf Kante gebügelten Hosenbeine der Geschäftsleute.

»Geh endlich voll arbeiten«, murmelte er den Standardsatz seines Vaters. »Tu was für die Gesellschaft.« Er gaffte in den Tante-Emma-Laden mit dem Nobelfutter, in dem sein ehemaliger Kollege hinter der Kasse stand und verhalten zurückgrüßte. Direkt gegenüber: das vierstöckige Kaufhaus. Das Pflegeheim, das früher im Erdgeschoss integriert und einem Dorf nachempfunden war, hatte man in der obersten Etage neu aufgebaut. Ohne Dorfidylle. Doch die kleinen Häuser standen noch immer. Nobelboutiquen verkauften darin ihre Waren an Snobs.

Max hasste Las Nuvis. Diese ach so aufstrebend-großartige Stadt der Moderne. Die Stadt, die Träume in Beton und Geldgier erstickte. Ein Flecken Erde, der ihm nichts bot: keinen Job, lose Bekanntschaften, überteuerte Wohnungen, einen Park am anderen Ende, in dessen Nähe seine Eltern lebten.

Er fuhr mit dem Bus zum Rand des Industriegebietes und betrat den Wohnblock, von dem aus man in lauen Sommernächten die Rufe desorientierter Pflegeheimbewohner hören konnte. Mit schweren Schritten schleppte er sich in den sechsten Stock. Seine billige Wohnung in Größe einer Schuhschachtel grüßte ihn mit latenter Muffigkeit. Kein Wunder. Frischluft drang nur durch das Badezimmerfenster. Das andere klemmte seit seinem Einzug und wenn Max eines brauchte, dann die Mietminderung.

Während er eine Dose Ravioli öffnete, alles mit einem Schmatzen in einen Topf verfrachtete und die Gabel hineinrammte, fragte er sich, welche beruflichen Alternativen ihm offenstanden.

Nicht viele.

Max schlang die lauwarmen Ravioli direkt aus dem Topf und ließ ihn auf den verkrusteten Tellerstapel fallen. Er könnte bei einer Hotline anfangen, überlegte er, schaltete die Konsole ein und zog die VR-Brille über den Kopf. Eine mit bescheidenen Arbeitszeiten, dummen Kundenfragen und hysterischen Vorgesetzten, die auf Quoten pochten.

Max starrte auf das Hauptmenü der Konsole, die sein gesamtes Blickfeld einnahm. Er lockerte seinen Nacken, griff nach den beiden Controllern, kalibrierte die Geräte inklusive sich selbst im Raum und drückte auf Spiel-Start.

»Finding Guard – Drachenturm«, prangte in silbernen Buchstaben vor Max’ Augen. Die Worte lösten sich in Glut auf und schwebten in den pechschwarzen Nachthimmel empor. Am Horizont glühte der heilige Berg Isekiel von der ausbrechenden Lava. Zu viele Stunden waren seit seiner letzten Spielsession vergangen, nur weil er seinen Eltern beweisen wollte, dass er zu etwas taugte. Was für ein sinnloser Zeitvertreib. Max erinnerte sich kaum an die offene Zwischenquest. Irgendeine Rettungsmission, die warten konnte.

Er zog sein Breitschwert, prüfte die Anzahl der Pfeile für seinen Bogen und schlug den Pfad ein, der ihn zum drohenden Weltuntergang führte. Nur einer konnte dieses Szenario abwenden: Max! Platz Nummer – er öffnete die Onlinerangliste – zwei. Noch.

Er griff die Controller fester. Max würde ihnen sein Können zeigen. Ihnen allen! Schlafen konnte er, wenn sein bescheuerter Name, DumplinMax1, an der Spitze der Liste stand!

Mit energischen Schritten trat er auf eine Holzbrücke und erschlug einen Goblin, der darunter hervorsprang. Anstatt Geld, Heiltränken oder Schrott, hinterließ er eine kleinkalibrige Waffe. Eine, die Max nur mitnehmen konnte, wenn er alle anderen zurückließ, warnte ihn die aufploppende Infobox. Jetzt. Ohne Möglichkeit, sie in seiner Truhe in der Hauptstadt zwischenzulagern.

Unentschlossen tigerte er um die Pistole herum. In keinem Forum hatte er je über etwas Derartiges gelesen … Was, wenn er mit dieser Entscheidung sein Spiel versaute? Wieder etwas, das er in seinem Leben verbockte? Max hob die Hand, um sich am Kopf zu kratzten, und zuckte zusammen, als der Controller gegen die VR-Brille stieß.

»Wehe, es lohnt sich nicht«, murmelte er.

Er öffnete das Inventar, entsorgte ein halbes Dutzend Waffen und, zum Schluss, sein geliebtes Schwert, das er seit Level achtundsechzig hegte, pflegte und aufpeppte. Er rammte seinen treuen Begleiter in die Holzbretter der Brücke und griff nach der Pistole, die laut Anzeige hundert Schuss hatte.

Eine Weile geschah nichts.

Nur das Rauschen des Windes schwoll in seinen Ohren an. Obwohl … Nein. Kein Wind. Max sah nach oben und entdeckte ein fliegendes Monster mit leuchtend roten Augen. Dahinter näherten sich drei Dutzend pferdegroße Leiber, die die Sterne verdunkelten.

Sie kamen furchtbar schnell näher!

Fluchend sah er sich auf der kargen Ebene um. Keine Deckung weit und breit. Nur die Brücke, auf der er stand, und der mit Riesenblutegeln verseuchte Fluss unter ihm. Max blieb nichts anderes übrig, außer die Waffe zu heben und durchzuhalten, bis der letzte Schuss die Luft zerriss.

Die Beine fest auf dem Boden, die Knie leicht angewinkelt zielte er auf den nächstnahen Gegner. Schuss. Fall. Schuss. Fall. Untermalt vom Kreischen und Knurren dieser Ungeheuer. Die Angriffswelle nahm nicht ab. Es kamen immer mehr. Größere. Monströsere, die ihn bis in die Träume begleiten würden. Doch je größer der Gegner, desto leichter war er zu treffen.

Bis seine Waffe ein dumpfes Klicken von sich gab.

Mit rasendem Herzen duckte sich Max unter dem Kiefer eines Fledermausartigen hinweg. Aus dem Fluss rückte ein fischähnliches Vieh nach, dem er die leere Pistole gegen den Schädel schleuderte. Mit einem Sprung hechtete Max zu seinem geliebten Schwert. Doch seine Hand glitt einfach durch den Griff hindurch.

Diese Gegner würden ihn fressen.

Seinen Charakter und die Schätze.

Seinen Spielstand.

Den Ort seiner Freiheit.

Sein zweites Zuhause.

Max brüllte den fliegenden Monstern seine Wut entgegen.

Das fledermausartige Monstrum kreischte und schoss auf ihn zu.

Max riss sich im Spiel instinktiv den Helm vom Kopf und knallte es dem Vieh in den Rachen, bevor er selbst darin landete. Diese Handlungsoption war neu!

Ein Textfenster ploppte auf, das den Kampf in den Pausenmodus beförderte. Die Rangliste erschien.

1. Platz: DumplinMax1

Max ließ die Hände mit den Controllern sinken und starrte auf seinen Namen.

Ein weiteres Fenster öffnete sich über dem anderen. Es verdeckte das Mistvieh, bei dessen detaillierten Zähnen sich die Entwickler etwas zu viel Mühe gaben. Buchstaben tauchten auf, bildeten Worte und Sätze, die Max mehrmals lesen musste, um sie zu begreifen:

Sehr geehrte/r DumplinMax1, herzlichen Glückwunsch zum ersten Platz bei »Finding Guard – Drachenturm«. Wir, die Entwickler, freuen uns über deine enormen Erfolge, trotz eingeschränkter Spielzeit. Wir bieten dir an, unserem Team beizutreten.

Max blinzelte hinter seiner VR-Brille. Er schob sie hoch, starrte drei Minuten aus dem Fenster in den frühen Abend und zog sie sich zurück auf die Nase.

Wir möchten dich, DumplinMax1, als Profi-Gamer für unsere Spieleentwicklung engagieren. Dies ist jedoch an zwei Bedingungen gebunden:

1) Ein Umzug in die direkte Nähe des Entwicklerstudios ist unabdingbar.

2) Die Unterzeichnung der Geheimhaltungsklausel ist Pflicht.

Kost und Logis wird gestellt. Der Monatslohn von dreitausend Euro wird immer am 15. ausgezahlt.

Um sowohl dem Angebot als auch den Bedingungen zuzustimmen, spring ins Maul des Monsters.

Alle relevanten Details zum Arbeitsvertrag werden dir über deine Account-Mail-Adresse zugesendet.

Wir würden uns freuen, dich bei uns begrüßen zu dürfen.

Dein Team von »Finding Guard«.

Die Fenster schlossen sich und das Monster tauchte wieder auf. Erstarrt hing es in der Luft. Das Maul aufgerissen. Der Rachen ein Abgrund ins Nichts.

Das Angebot der Entwickler klang zu gut, um wahr zu sein. Max wünschte sich Bedenkzeit. Noch drei, vier Stunden spielen, bevor er sich entschied. Er versuchte, seitlich dem Maul auszuweichen. Doch sein Avatar kannte nur zwei Richtungen: nach vorn. Und zurück. Das kleine Speichern-Symbol in der unteren Ecke verursachte einen Knoten in seinem Magen. Er würde immer wieder hier landen. Vor dem detaillierten Maul des Monsters.

Fluchend trat Max auf der Stelle und fühlte den alten Teppich unter seinen Füßen.

Keine Bedenkzeit.

Sein Spielstand war futsch.

Futsch wie sein letzter Job.

Wie die Meinung seiner Eltern über seinen Lebensweg.

»Was soll's«, brummte er und sprang.

Das Bild der VR-Brille wurde schwarz. Nichts ging mehr.

Max fuhr die Konsole fluchend herunter und wieder hoch. Er wollte sich erneut einloggen und herausfinden, ob er einem Hacker auf dem Leim gegangen war. Beim Anmelden in »Finding Guard – Drachenturm«, stand dort nur: »Ihr Konto ist für die nächsten 12 Stunden deaktiviert. Vielen Dank für Ihr Verständnis.«

Max’ Fluchen ließ die Nachbarn rechts und links gegen die Wände hämmern.

Leiser fluchend legte er sich auf das Bettsofa und zog die Decke über den Kopf.

»Scheißtag«, murmelte er und nahm sich vor, morgen den Support anzuschreiben. »Scheiß Hacker.«


Am nächsten Morgen blinkte sein Handy.

Eine E-Mail.

Von »Finding Guard«.

Die versprochenen Details zum Arbeitsvertrag. Es sah zu gut aus.

Anstatt die Nummer im Vertrag zu wählen, meldete er sich beim regulären Support. Er musste sichergehen, dass er keinem Betrüger auf dem Leim ging.

Eine junge Frau rief zurück, die klang, als könnte sie anderweitig telefonisch Geld dazuverdienen. »Wenn du dem Arbeitsverhältnis innerhalb der nächsten zwölf Stunden zustimmst, erhältst du ein besonderes Willkommensgeschenk für dein neues Heim: den Prototyp der neuen Hyperreal-VR-Brille. Bist du interessiert?«

»Äh … Ja?« Max fragte sich, ob der Hacker nicht nur das Konto seines Spiels, sondern auch sein Handy gehackt hatte.

»Super«, gurrte die Frau am anderen Ende der Leitung zufrieden. »Wann kannst du anfangen?«

»Übermorgen«, sagte Max, um ihrer Reaktion zu lauschen.

Sie lachte. Entweder gehörte sie zu einem Ring von Profi-Hackern, die sich einen Spaß erlaubten. Oder das Angebot war echt.

»Alles klar«, flötete die Frau. »Wir warten auf den unterzeichneten Arbeitsvertrag. Anschließend senden wir einen Wagen, der dich vor deiner Wohnung abholt.«

»Woher wissen Sie«, setzte Max an und rieb sich über die Schläfen. »Vergessen Sie es. Dumme Frage.« Mit der Anmeldung hatte er nicht nur seine Seele, sondern auch seine Daten verschenkt.

Die Frau vom Support lachte und verabschiedete sich.

Max fuhr sich über das Gesicht, ging duschen, wechselte die Kleidung, die er seit fast zwei Tagen trug, und rief seine Eltern an.

»Mama?«

»Was brauchst du, Junge?« Sie klang gehetzt.

»Ich hab einen neuen Job«, verkündete Max atemlos vor Unglauben.

»Schön, mein Schatz«, sagte sie ohne zuzuhören. Hätte er um Geld gebeten, hätte sie alles andere liegen gelassen und ihm einen halbstündigen Vortrag gehalten. »Es ist Sonntag«, fügte sie irritiert hinzu.

»Der Lohn ist ausgesprochen gut«, fuhr Max fort.

Das kurze Schweigen am anderen Ende des Anschlusses ließ sein Herz hüpfen. Er hatte sie und ihre Aufmerksamkeit! Durch seine Leistung!

»Was ist dein Aufgabenbereich?«, hakte sie nach.

»Ich teste Spiele. Die neusten!«

»Nett …«, murmelte seine Mutter und rief seinem Vater im Hintergrund etwas zu. »Mal sehen, wie lange du diese Anstellung behältst.«

Starr blieb Max in der Mitte des Wohnzimmers stehen. Wie sein Herz.

»Du brauchst eine Freundin, Junge. Ich kenne jemanden mit einer kleingeratenen Tochter. Du hast doch nicht so viel Auswahl mit deiner Körpergröße.«

Max schluckte. »Nein. Danke. Mein Job verlangt einen Umzug.«

Er hoffte, dass sie nachfragte, wohin er ging. Doch sie sagte ohne Umschweife: »Ich bin gespannt, wann du zurückkommst. Mach es, wenn du unbedingt willst. Aber ich glaube nicht, dass diese Anstellung eine Zukunft hat. Geh in die Pflege. Kranke gibt es immer. Verstehst du?«

»Verstehe«, murmelte Max.

»Wünsch ihm Glück«, brüllte sein Vater bissig aus dem Hintergrund.

»Viel Glück«, wiederholte seine Mutter mechanisch. Beiläufig. Als glaubte sie nicht daran, dass er in eine andere Stadt zog.


METHA

⸗ Unheilsbote ⸗


Die aufgehende Sonne schien durch das Küchenfenster und blendete Metha beim Abwaschen.

»Ich brauch Wasser«, rief ihre Schwester aus der ersten Etage. »Und Verbandszeug. Sofort!«

Metha warf den Schwamm zurück in die Spüle. Wasser und Schaum spritzten auf die polierte Arbeitsfläche und den gefliesten Boden. »Guten Morgen, Metha. Wir hatten eine aufregende Nacht. Wie war deine?«, brummte sie mit verstellter Stimme.

Mit der Flasche, die Anna selbst hätte mit hochnehmen können, und dem Erste-Hilfe-Set stieg sie die knarrenden Stufen hinauf, die bei ihrer Schwester nie so laut protestierten.

Sie folgte dem Stöhnen und stieß die angelehnte Tür zum Zimmer ihres Bruders auf. Victor lag auf dem Boden vor seinem Bett, damit die Matratze sauber blieb. Der Bettvorläufer war vollgesogen, die Dielen mit seinem Blut getränkt.

»Ihr Banausen«, murrte Metha und kniete sich neben ihre athletischen Geschwister, die nichts mit ihr gemein hatten.

»Du nennst uns Banausen?«, brüllte Anna und schlug ihr gegen die Schulter. Eine Überspannungsreaktion. Sogar in ihren blonden Haaren klebte Blut.

»Ihr hättet Bescheid sagen können, bevor ihr alles vollsaut. Küche oder Bad lassen sich leichter reinigen.« Metha zog Victors Ärmel zurück und pfiff durch die Zähne. »Das kann ich nur provisorisch behandeln.«

In seinem Arm klafften ein halbes Dutzend Löcher. Metha legte einen Druckverband oberhalb der Wunden an. Allein durch zwei konnte sie das Weiß des Knochens hindurchschimmern sehen. Ohne Vorwarnung schüttete sie das Wunddesinfektionsmittel in die Löcher und versuchte Victors Schreie auszublenden.

»Stillhalten.« Sie drückte ihr Knie auf seinen Brustkorb und raubte ihm den Atem.

»Geh runter, du zerquetschst ihn!« Anna warf sich gegen sie. Vergeblich.

»Dann hilf mir und nicht ihm«, zischte Metha.

Es dauerte mehrere Herzschläge, in denen das Blut aus ihm heraussickerte, bis ihre Schwester Victor mit ihrem ganzen Körpergewicht an den Boden pinnte. Mit zusammengepressten Lippen nickte sie Metha zu.

Der Druckverband war bei den weit gefächerten Wunden schwer anzulegen. Metha hätte mehr helfende Hände gebraucht. Besseres Equipment. Oder überhaupt eine Ausbildung, um diese Verletzungen zu versorgen. Victor brüllte und wimmerte, als wäre das schlimmer als die Bauchwunde vor einem Jahr, die ihn fast umgebracht hatte.

Sobald der Verband saß, wischte Metha ihre blutigen Hände an Victors Hose ab. »Ihr müsst trotzdem ins Krankenhaus.«

»Nein! Die stufen uns runter«, keuchte ihr Bruder und ließ sich von Anna hochhelfen.

»Dann hättest du besser aufpassen sollen.« Metha ging zur Tür und ignorierte das bissige »Sagt eine, die der Familie keinerlei Ehre bringt« ihrer Schwester.

»Mach Speck und Eier zum Frühstück«, keuchte Victor.

Kein ›Bitte‹. Kein ›Danke‹.

Metha ging sich die Hände waschen. Sie kannte ihre Geschwister gut genug, um zu wissen, dass sie in diesem Moment den Telefonanschluss kappten. Daher rief sie direkt aus dem rückwärtigen Badfenster den Nachbarn zu, dass sie das Krankenhaus über einen unwilligen Patienten informieren sollten.

»Ich geh Brötchen kaufen«, rief Metha in der Hoffnung, dem drohenden Szenario zu entkommen, und eilte die Treppe hinunter.

Mit einem Jutebeutel in der Hand verließ sie ihr Elternhaus und lief die gewundene Pflasterstraße entlang. Alle Straßen in Finning-Gard waren gepflastert. Damit man hörte, wenn jemand kam. Oder etwas.

Finning-Gard. Das verschlafene Städtchen, rechts vom bewaldeten Drei-Schwerter-Berg, links vom Steilhang und direkt vor dem Ozean. Ein Ort, romantisch, abgelegen und bewusst ohne nennenswerte Sehenswürdigkeiten, sodass nicht einmal Reisende länger als bis zur vollen Tankladung blieben. Sie gingen maximal bis zum Ortseingangsschild, schossen Fotos von den drei gigantischen Schwertern auf dem Berg und der Stadt, und fuhren brav weiter.

Metha blickte die Straße herunter zum Meer, in die Ferne, und träumte sich weg.

In der Schule prophezeiten die Lehrer ihre drohende »Untauglichkeit«, die Familientradition zu wahren, für die ihre jüngeren Geschwister wahnhaft trainierten: Jäger zu werden. Damals drängte man Metha, mitzuhalten, obwohl ihre Mutter, Onkel und Tanten regelmäßig traumatisiert in Zimmerecken hockten. Jederzeit konnte einer von ihnen verletzt oder getötet werden. Oder einfach verschwinden. Metha hatte keine Lust, auf diese Art zu leben. Sie verdoppelte ihre Kalorienzufuhr, um diesem Schicksal zu entgehen. Mit den zunehmenden Sticheleien fiel es ihr leichter, zu essen. Ihre Familie stellte sie zu Kochdiensten ein und zu Haushaltspflichten ab. Ihr Stiefvater Colin beschwerte sich lautstark über fast jede Mahlzeit und ihre Halbgeschwister ignorierten sie – außer sie hatten Probleme. Schlaflosigkeit. Ruhelosigkeit. Kurzzeitige Angstzustände. Liebeskummer. Den ganzen Emotionsmüll luden Anna und Victor hinter verschlossenen Türen bei ihr ab. Nach ihrem Schulabschluss entschieden ihre Familie, die Lehrer und der Rat, dass Methas Potential zu gering war, um sie für eine Ausbildung wegzuschicken. Die einzige Möglichkeit, die sie damals gehabt hatte, war ein Abschluss einer Fern-Uni. Drei Bereiche gaben sie ihr zur Wahl: Medizin. Grafikdesign. Landwirtschaft.

»Gibts was Neues, Frau Psychologin?«

Metha, die jeden der Wege blind und volltrunken gehen könnte, sah dem Bäcker entgegen. Er lehnte mit den Unterarmen auf seinem Verkaufstresen, der an warmen Tagen zur Straße offen war. Der Duft nach frisch Gebackenem wehte durch ganz Finning-Gard und mischte sich mit dem salzigen Meergeruch.

»Das Übliche. Tod und Verderben«, sagte Metha trocken und öffnete ihren Beutel.

Herr Kafková, der Bäcker, lachte und reichte ihr die täglichen Frühstücksbrötchen über den Tresen. In unter zwei Minuten würde er den Krankenwagen bemerken, der durch den Ort bretterte und vor ihrem Elternhaus hielt. Sie musste weg, bevor er seine hundert Fragen stellte.

»Was macht das Philosophiestudium?« Er lehnte einen Arm auf die Kasse.

»Philosophiert vor sich hin.« Metha zwang sich den Hauch eines Lächelns auf die Lippen, zahlte bar und ging. Sie hasste, dass man ihr Interesse an den Geisteswissenschaften belächelte. Dabei war es genau das, was sie nach all den Geschichten ihrer Patienten – ihrer Nachbarn und Bekannten – erdete.

Metha hob ihren Brötchenbeutel und schnupperte an den warmen Leckereien. Körner, Käse, Dinkel. Lecker.

»Hallo Metha«, sprach jemand sie plötzlich aus einer Seitengasse an. Henriette. Die Augenringe ihrer ehemaligen Klassenkameradin waren so ausgeprägt, dass sie eigene Namen verdienten. »Hättest du später einen Termin frei? Für meinen Mann.« Sie starrte in die Ferne und tätschelte ihren runden Bauch.

»Gegen zehn habe ich eine Lücke. Für euch beide.«

»Mir geht es gut«, meinte Henriette und wandte sich ab.

»Dein Spiegelbild glaubt dir genauso wenig wie ich. Komm einfach. Ich schaufel ein paar Minuten für dich frei.« Metha sah sie nicken und hastig durch die Seitengasse davoneilen.

Auch Metha lief Umwege zurück nach Hause. Weg von dem drohenden Ärger mit Anna. Weg vor den Erinnerungen.

In ihrer Schulzeit, nachdem sie angefangen hatte zuzunehmen, war sie es gewesen, die weggelaufen war wie Henriette: schnell und ohne zurückzublicken, damit keinem die Tränen auffielen. Es dauerte Jahre, bis man ihr Gewicht und ihre berufliche Entscheidung akzeptierte. Bis der Rat ihren Wert erkannte und sie um Hilfe bat, obwohl viele Jäger weiterhin warteten, bis sie Metha allein antrafen. Es lag weniger an ihrer Person als an dem toxischen Verhalten, das sich seit Generationen hielt: Jäger galten als entschlossen und mächtig. Furchtlos. Die Albträume und Tränen passten nicht ins Bild der athletischen Männer und Frauen, die sich gegen die Schrecken der Nacht warfen. Darum reagierten sie in Methas Nähe alle gleich, sobald sie sich in Gruppen auf sie zubewegten: mit Verleugnung ihrer Schwäche und jedem vergangenen Gespräch, das sie miteinander führten. Genau wie ihre Familienmitglieder, die sich an den Nachmittagen aufplusterten wie Pfaue auf Balz und an dienstfreien Abenden unter die Decken krochen und Methas Namen flüsterten. Sie wollten so sehr ihre eigenen Lügen glauben, dass ihr Inneres sich daran Wunden riss.

»Morgen, Metha. Schon unterwegs?«

Sie erwiderte den Gruß des Buchhändlers, der seit dem Morgengrauen auf Kundschaft wartete. Manchmal suchten Jäger nach ihrem Dienst Zerstreuung in seinem Lädchen. Metha hörte seine kleinen Kinder in der Wohnung darüber toben. Einige Straßen weiter erklang das Brummen eines Autos. In einem Ort, in dem sich jeder zu Fuß oder mit dem Fahrrad fortbewegte, weckte es Alarmbereitschaft. Der Krankenwagen!

Metha verspürte keinen Drang zurückzukehren, bevor die Nachbarn damit fertig waren, sich die Mäuler über Victor und Anna zu zerreißen, die ihrer unweigerlichen Herabstufung entgegensahen. Metha verstand nicht, was beide so grauenvoll daran fanden, leichtere Aufträge auszuführen, die potentiell ihre Leben verlängerten.

Langsam, an einem Käsebrötchen knabbernd, lief sie die verschlungene Runde. Vorbei am kleinen Kindergarten samt Schule, der Mühle am Fluss, der direkt in den Ozean mündete, und an der Fleischerei entlang. Emma, vom Tante-Emma-Laden, drapierte frische Blumen im Schaufenster, die nicht in dieser Gegend wuchsen. Sie war die Einzige, die regelmäßige Lieferungen von außerhalb erhielt – inklusive der Pakete der Einwohner. Am Kreisverkehr, den eigentlich kein Mensch brauchte, lag das örtliche Restaurant. Gegenüber stand das elitär-verschnörkelte Institut der Jäger.

Ein Gagagag ließ Metha innehalten. Die Gänse der Bauern und Hirten des Umlandes watschelten in gemeinschaftlicher Entschlossenheit die Straße herunter – auf den Weg zum großen Wasser, um nach Muscheln zu suchen.

Auf der Flucht vor den fauchenden und beißenden Tieren hastete Metha in die Straße nach links. Am futuristischen Klotz des Entwicklerstudios, bei dem die zweite Etage komplett fensterlos war, blieb sie stehen und musterte den leuchtenden Aushang. Fluchend beschleunigte sie ihre Schritte.

Jemand Neues würde kommen!

Ein Jägerrekrut.

Futter für die Plage.


MAX

⸗ Game On ⸗


Der Fahrer quatschte so ausschweifend, dass sich Max zurück in den Flieger und sogar in den rappelvollen Überlandbus wünschte. Auf der Entwicklerseite fand er den vagen Hinweis, in welchem Land das Studio saß. Es hatte ihn überrascht, als er die Koordinaten erhielt und im Internet an dieser Stelle nichts verzeichnet war. Ein schwer zu erreichender Ort am Meer.

Max starrte in den vorüberziehenden, trüben Vormittag und nickte mechanisch alle Informationen ab, mit denen der Mann ihn überschwemmte. Wikingerangriffe. Hexenverbrennungen – nicht die von armen Frauen, die man loswerden wollte, sondern von echten Magiekundigen. Zombies. Alles Dinge, die begannen mit: »Man erzählt sich, wie vor vielen, vielen Jahren …«

Finning-Gard. »Finding Guard«. Der Name des Ortes und des Spieles. Darüber dachte Max in Wirklichkeit nach. Über die Ähnlichkeit.

Hügelige Weiden mit grasenden Viechern lagen rechts und links der Straße. Die Schafe und Kühe hoben träge ihre Köpfe. Es waren zwei, vielleicht drei Dutzend, aber sie wirkten größer, als sie hätten sein dürfen. Dieser ganze Flecken Erde lag prall und erntereif vor ihm ausgebreitet. In wenigen Wochen würde er statt der späten Sommerhitze Herbststürme schmecken.

»Wir haben auch ein paar schöne, fette Schafe«, platzte der Fahrer heraus. Max hatte seinen Namen längst wieder vergessen. »Und regelmäßig büxen die Gänse aus und laufen durch den Ort.« Sein Lachen ließ Max zusammenzucken. »Die Bauern tun immer so, als würden sie die Biester planmäßig herumspazieren lassen.«

»Aha«, machte Max und bekam einen langatmigen Vortrag darüber, den Gänsen lieber auszuweichen.

»Ich habe gedacht, Finning-Gard wäre eine Stadt. Kein … Ort voller Bauernhöfe.«

Das Gelächter seines Fahrers klang unangenehm in den Ohren. »Über elftausend Bewohner blicken voller Stolz auf das komplexe und nahezu autarke Versorgungsnetz ihrer Heimat. Sie wird ein Teil von dir werden, Junge.«

»Was?« Max musterte den Fahrer durch den Rückspiegel.

»Dein Zuhause. Finning-Gard.« In dem Moment drückte der Mann auf das Gas und der Wagen erreichte die Kuppe eines Hügels. Unter ihnen führte eine Serpentinenstraße zu Finning-Gard. Zweistöckige Häuser, rustikal, mit sichtbaren Balken in den Außenwänden und Pflanzen an den Fassaden, ja, teilweise auf den Dächern. Pflasterstraßen schlängelten sich dazwischen hindurch. Große, bis zu fünfstöckige futuristische Gebäude mit spiegelnden Fensterfronten durchbrachen unregelmäßig das Bild, während in einiger Entfernung Windmühlen die Meeresbrise einfingen.

»Jeder kennt jeden«, meinte der Fahrer lapidar und wackelte mit der Hand, als ob er Fliegen verscheuchte. »Zumindest vom Sehen. Ich hoffe, du kannst die Neugier einiger Nachbarn ignorieren.« Die Blicke der beiden begegneten sich im Rückspiegel. »Wir bekommen nicht oft Frischfleisch.« Er zwinkerte und wandte sich wieder zur Straße. »Genieß den Ausblick.«

Max unterdrückte das Seufzen und lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Rückblickend hatte es ihm gereicht, dass ihn sein ehemaliger Kollege an der Kasse nicht zurückgrüßte, obwohl er ihn genau auf der Straße gesehen haben musste. – Das auf eine gesamte Kleinstadt hochgerechnet … Der Job hatte das Potential, zu seinem persönlichen Mobbing-Albtraum zu werden. Aber, sprach sich Max Mut zu, sie hatten ihn eingeladen.

Die Wolken schoben sich auf und ließen die Sonnenstrahlen hindurch. Das Licht brach sich in den Wellen des Ozeans und blendeten ihn.

»Gutes Zeichen«, hörte er den Fahrer murmeln.

Dreihundert Meter, bevor sie das erste Haus von Finning-Gard erreichten, schlug Max’ Kopf im Rhythmus des Kopfsteinpflasters gegen die Scheibe. Die Schläfe reibend richtete er sich auf und musterte die alten Fachwerkhäuser. Keines sah aus wie das andere. Die Türen waren bunt und voller geschnitzter Verzierungen. Selbst bei den Balken in den Fassaden hatten sich Künstler ausgetobt und mit Silber, Gold und Bronze Zeichen hingekrakelt. Einige davon erinnerten ihn an Steinzeit-Zeichnungen in Höhlen. Viele der zweistöckigen Häuser waren bis zu der ersten Etage begrünt. Vor allem die, deren Fassaden nicht verputzt waren. Blanker Stein blitzte unter dem Grün hervor. Die Laternen, stellte Max fest, befanden sich nicht auf den schmalen Bürgersteigen. Sie ragten aus den Gebäuden. Alle Fenster besaßen Fensterläden und jedes Fitzelchen Platz zwischen Haus und Straße war begrünt.

Max fühlte sich in dem Taxi wie ein Fremdkörper, der Krawall machend in ein Gemälde raste. Sie fuhren über eine Brücke. Richtung Meer erkannte er eine Weitere. Eine Kirche stand mit dem Rücken am Ufer des Flusses, der sich durch den Ort zog. Sie schien nur geringfügig höher als die Wohnhäuser. Die Gebäude wirkten, als könnten sie jeden Moment ins Wasser fallen. Die betonierte Abgrenzung des Flusses ging nahtlos in die Außenmauern über.

Der Fahrer bog tiefer im Innenort in einen Kreisverkehr ein und deutete auf ein angrenzendes Restaurant, während Max sich die Nase an der Scheibe platt drückte. Obwohl es später Vormittag war, schlenderten die Menschen mitten in der Woche durch die Straßen, als hätten sie allesamt Urlaub. Ihnen fehlten die hektischen Bewegungen, das Starren auf die Handys oder Uhren. Max sah, wie sie sich Menschen begegneten, anstatt aneinander vorbeizulaufen. Ihre Kleidung wirkte … unaufgeregt. Gedeckte Farben, wenige, aber herausstechende Accessoires – Ketten, Armbänder, Taschen – die sich ab und an bei den Bewohnern wiederholten. Ein Trend, den der Rest der Welt bisher verpasste.

Der Wagen hielt direkt vor einem außerirdisch wirkenden Gebäude, das der Fahrer ihm als ›das Entwicklerstudio‹ vorstellte.

»Steig aus und beginn dein neues Leben, Junge.« Zack, sprang der Mann von seinem Sitz, umrundete den Wagen, riss Max’ Tür auf und holte die beiden Gepäcktaschen aus dem Kofferraum.

Max brauchte einige Sekunden, in denen er sich im Anblick des Entwicklerstudios verlor. Er atmete aus, umfasste den Türgriff und setzte einen Fuß hinaus in sein neues Leben.

»Ich hoffe, du zeigst im Spiel eine schnellere Reaktion.« Der Fahrer grinste von einem Ohr zum anderen und hielt ihm sein Gepäck entgegen. Sein Augenlid zuckte verräterisch.

Mit klammen Fingern nahm Max seine Sachen, schüttelte ihm das lächerliche Restgeld seines Portemonnaies in die Hand und lief auf das Hightechgebäude zu. Sprachlos starrte er auf den leuchtenden Aushang mit dem schrecklichen Bild, das auch seinen Personalausweis zierte.

»Begrüßt unser neues Mitglied«, prangte in fetten Buchstaben darüber. Sein Name direkt darunter. »Max Naess.«

Die Schläfen reibend machte er sich auf das bekannte Martyrium gefasst: dämliche Namensspielereien seiner Kollegen.

»Hallo Max. Ich bin Michelle.« Die junge Frau stand so plötzlich neben ihm, dass er vor Schreck auf der Stelle sprang.

»Vorweg: Jeder duzt jeden. Respekt zeichnet sich im gesamten Wortschatz und Tonfall aus. Nicht im Siezen.« Sie hatte ihren Modelkörper in ein enges Kostüm gezwängt, das lasziv von ihrem Gesicht ablenkte. Sie war mit Abstand die sinnlichste Frau, die ihm je in der Realität begegnet war.

Stocksteif nickend starrte er auf ihren Haaransatz.

»Du bekommst eine Einführung.« Sie lächelte eindeutig zweideutig, was ihm den Schweiß auf die Stirn trieb.

Benommen und müde von der zwölfstündigen Reise folgte er ihren wiegenden Hüften.


METHA

⸗ Press Stop ⸗


»Mach es epischer«, wies Anna den Tischler und seinen Schüler an. Victor nickte und schob die Zeichnung quer über die Küchentheke zu ihnen zurück. Mit einem Arm stützte er sich auf die Arbeitsfläche. Der andere lag in einer Schlinge.

Schweigend stand Metha vor der Kaffeemaschine und sah zu, wie sich die zweite Kanne füllte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie ihren Halbbruder. Victor wurde zu früh aus der Klinik entlassen. Nicht einmal runtergestuft hatte man ihn und Anna, obwohl sie gegen Sicherheitsregeln verstoßen hatten.

»Die Kinder haben recht.« Methas Mutter Sarah richtete ihre Frisur in der Spiegelung eines blank polierten Topfes. »Wir stammen einer glorreichen Reihe von Jägern ab.« Sie stieß ihren Mann mit der Hüfte an, der gedankenversunken eine ihrer Haarsträhnen löste. Sie lachte und kniff ihm in die stoppelige Wange.

Metha spürte den Blick, den ihr Colin zuwarf. Er hätte die folgenden Worte nicht sagen müssen. Dennoch tat er es. »Schade, dass nicht jedes Mitglied unser Jäger-Gen besitzt. Wie soll der Balken denn bitte aussehen mit einem solch schwarzen Schaf in der Familie?«

Victor spuckte vor Lachen seinen Kaffee über die Skizze, an der der Lehrling arbeitete. »Mächtige Menschen und in der Ecke eine dicke, runde Kugel, die Bücher balanciert.«

Die Kaffeemaschine verstummte und Metha zog den Stecker. Schwarzes Schaf. Innerlich wie äußerlich. Dunkle Haare und Augen. Füllige Figur. Selbst Methas Blick war ein anderer, wenn sie in den Spiegel sah. Weniger kalt und stechend.

Metha drehte sich zu ihrer Familie um. »Diese dicke Kugel«, setzte sie an und musterte ihre Mutter Sarah, »hat dich vom Boden aufgekratzt, nachdem man Papas zerrissene Leiche fand.« Ihr Blick flog zu ihren Geschwistern. »Ich hab euch in eurem ersten Einsatz gedeckt, als ihr unter Schock nach Hause kamt.« Sie starrte Colin nieder. »Und du würdest mich am liebsten bei Einbruch der Nacht vor die Tür setzen.«

Sein Gesicht war puterrot vor Zorn. All diese Anspielungen von Schwäche – vorgetragen vor Nachbarn. »Vielleicht wird es Zeit, das zu tun«, knurrte er und versteifte sich, als Sarah ihn von schräg unten ansah. »Ausziehen meine ich.«

»Fein.« Metha nickte, griff nach der Kaffeekanne und schüttete sie über den Tisch aus. »Dann könnt ihr üben, wie man putzt.«

»Metha! Was?«, setzte Sarah an.

»Die Kochbücher stehen unter der Spüle. Ihr werdet sie brauchen.« Mit erhobenem Kinn lief Metha aus der Küche. Im Flur blickte sie auf die große Blumenvase, die auf der Anrichte stand. Ihre Finger zuckten. Sie stellte sich vor, wie sie die Vase herunterschubste. Wie sie auf den Fliesen zersprang. Das Klirren wie ein frustrierter Schrei, der endlich an die Oberfläche drang. Doch Metha ließ die Blumenvase stehen und stieg mit Tränen in den Augen die Stufen hinauf. Ihre Luftröhre war so eng, dass kaum ein Schluchzen hervordrang.

Sie schlug die Tür hinter sich ins Schloss und warf sich aufs Bett.

Keiner aus ihrer Familie lief hinterher.

Erst als der Abend hereinbrach, hörte sie Schritte auf der Treppe. Jemand blieb vor ihrem Zimmer stehen.

»Wir ziehen los.« Die Stimme ihrer Mutter bebte. »Er bat mich, dir etwas zu bringen. Ich liebe dich, mein Schatz, aber es ist besser so.«

Die Schritte vor ihrer Tür entfernten sich und ließen die Treppe leise knarren.

Metha brauchte eine halbe Stunde, um die Kraft zu finden, vom Bett aufzustehen und in den Flur zu sehen. Drei Umzugskartons standen gestapelt zu ihren Füßen. Ein Zettel lag im obersten mit der Schrift ihres Stiefvaters:

»Du bist ein Schandfleck für diese stolze Familie.

Es ist für alle besser, wenn dein Schatten unsere nicht mehr berührt.

PS: Räum die Schweinerei auf, die du angestellt hast!!! Das bist du uns schuldig.«

Metha zerriss das Papier in kleine Fetzen. Alles in ihr schrie danach, rauszugehen und sich von der Seeluft die trüben Gedanken davon pusten zu lassen. Die Sonne zu beobachten wie sie im Meer unterging. In echt. Ohne eine Scheibe zwischen sich und der Frische der Nacht.

Stattdessen lief Metha durch jedes Zimmer und prüfte die Fensterläden und Fenster. Ebenso die Haus- und Hintertür. Alles musste verschlossen sein! Ihr Herz mochte sich misshandelt und herausgerissen fühlen, aber lebensmüde war sie noch lange nicht. Und die Genugtuung, dass Colin bei jedem den Verlust seines schwarzen Schäfchens beklagen würde, wollte sie ihm nicht geben. Die Aufmerksamkeit, in der er baden würde, sobald sie verschwand. Die Beileidsgeschenke, falls man ihre Leiche fand, mit denen sie ein halbes Jahr hinkommen könnten, ohne je einen Kochlöffel anfassen zu müssen.

Zurück in ihrem Zimmer begann Metha, die wichtigsten Sachen zu packen. Die drei Umzugskisten waren deutlich genug. Mehr durfte sie nicht mitnehmen. Sie sortierte ihre Kleidung. Die Psychologiebücher. Ihre Lieblingsromane, Notizbücher und Zeichnungen. Alles an Elektronik – außer den Fernseher. Eine Handvoll Kosmetik.

Mit geballten Fäusten sah Metha auf die vollgestopften Kisten. Zu viel musste sie zurücklassen. Ihre Stehlampe. Die Skulptur eines menschlichen Schädels. All ihre Pflanzen. Und das nur, weil ihr Stiefvater gehässig und Sarah nicht fähig war, ihm die Stirn zu bieten.

Die letzten Jahre hatte Metha jeden Tag nach oder vor ihrem Dienst Care-Arbeit übernommen, um Mahlzeiten für die mäkeligen und nörgeligen Menschen in diesem Haushalt zuzubereiten.

Nie kam ein Bitte. Oder Danke.

Metha war ihnen egal, solange das Essen auf dem Tisch stand.

Bis jemand verletzt wurde. Oder starb.

Bis sie, im wahrsten Sinne des Wortes, lebensmüde wurden.

Metha lief in die Küche hinunter und nahm das Messerset aus Damaszenerstahl an sich. In ihrem Zimmer steckte sie es mitten in eine der Umzugskisten. Trotzig legte sie ein altes Familienfoto obendrauf. Eines der letzten, auf denen ihr leiblicher Vater in die Kamera lächelte und das Sarah hinter der Kommode versteckte.

Die Kisten standen wie ein Mahnmal neben ihrer Tür. Eine Drohung vor Neuem inmitten etwas Alten und immer Gleichbleibenden. Die Aussicht, allein zu wohnen, niemandem hinterherzuräumen und den täglichen Schikanen zu entgehen, wirkte wie ein Traum. Einer, vor dem sie Angst bekam, sobald sie zum Fenster blickte.

Metha legte ihren liebsten Allein-zu-Hause-Film ein und drehte die Lautstärke auf Maximum. Nachdem im ohrenbetäubenden Finale der Protagonist über den Verlust seiner Liebsten in Tränen ausbrach, fühlte sich Metha endlich leer.

Während des Abspanns legte sie sich unter ihre Decke und prüfte ihr Handy. Fast einhundert verpasste Anrufe und achtunddreißig neue Nachrichten. Ihre Nachbarn fragten, ob sie noch alle beisammenhatte, so viel Lärm zu machen. Die Neueren kamen von ihren Kollegen, die sich erkundigten, ob alles in Ordnung sei. Den Ersten schrieb sie, dass ihre Familie die Zierbalken an der Hausfassade ausschmücken lassen wollten. Das »ohne Metha« schwang deutlich zwischen den Zeilen mit. Auf eine Einzige antwortete sie konkreter:

»Hab hier drei große Umzugskisten. Bräuchte bei Tagesanbruch Hilfe, sie ins Büro zu schaffen.«

Den Rest erledigte der Buschfunk – und der Tischler, der die Kratzer in der Fassade schon irgendwie füllen würde.

Als Metha den Fernseher ausschaltete, hüllte sich ihr Zimmer in drückende Stille und tiefstes Schwarz. Sie zog die Decke bis über den Kopf und drehte sich zur Wand, ignorierte das Klopfen, das so klang wie ein Tröpfeln nach einem Regenguss. Sie wusste es besser:

Die Plage presste sich gegen das Haus. So dicht, dass das Laternenlicht vor ihrem Fenster nicht bis ins Zimmer drang.



Metha wartete kurz nach Sonnenaufgang vor ihrem Elternhaus auf die Rückkehr ihrer Familie. Die Kartons standen demonstrativ neben der Tür. Ihr Stiefvater war der Erste, der ankam.

»Du hast gute Jäger in unnötige Gefahr gebracht!«, brüllte er. »Wie dämlich kann ein einzelner Mensch sein, nachts solch einen Krach zu machen?« Colin redete so schnell und ohne Atem zu holen, dass er rot anlief.

Metha starrte ihm mit leerem Gesichtsausdruck in die Augen, bis er tobend ins Haus trat. Sie hatte mit der Lautstärke keine bestehende Regel verletzt. Er jedoch war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

Victor und Anna stapften an ihr vorbei, als wäre sie Luft. Metha ging davon aus, dass sie mit ihrer Aktion die Plage vom geplanten Einsatzgebiet weggelockt hatte und das die Herabstufung der beiden somit beschlossene Sache war. Wer nach einem Einsatzfehler keine Erfolge verzeichnete, wurde sanktioniert.

»Mein Schatz«, hauchte Sarah und blickte an Metha vorbei zur offenen Haustür. »Du musst dich selbst um eine Bleibe kümmern.«

Metha sah den Zwiespalt in ihren wässrigen Augen. Die emotionale Abhängigkeit zu ihrem Mann wog schwerer als die Verbindung zur erstgeborenen Tochter.

»Verfasst du bitte das Empfehlungsschreiben?«, fragte Metha nach dem unsinnigen Dokument. Es diente allein dazu, den mangelnden Wohnraum in Finning-Gard zu kontrollieren und die flügge werdenden Kinder unter dem elterlichen Dach zu halten – bis sie in der Gemeinschaft mit Arbeit und Fleiß ihren Wert bewiesen. Oder einen Partner fanden. Freie Wohnungen für Singles waren wie Einhörner in Tutus: nicht vorhanden.

Ihre Mutter blickte erneut hinter Metha. Zur Haustür, wo im Schatten Colin und ihre Halbgeschwister standen.

»Wir werden etwas schreiben«, raunte sie.

Wir. Ohne Hilfe und einem ausgezeichneten Empfehlungsschreiben teilte man ihr keine Unterkunft zu.

»Ich habe euch immer hinterhergeräumt und gekocht«, erinnerte Metha sie und versuchte, ihre brechende Stimme mit einem Räuspern zu überspielen. »Du weißt, dass ich meine künftige Wohnung pfleglich behandeln werde.«

Hinter Metha schnipste jemand. Sarah straffte die Schultern und begab sich zu ihrer Jägerfamilie. Ein kaum merkliches Nicken war das einzige Zeichen, das sie ihrer Tochter gab. Sarah würde sich bemühen, ein gutes Wort für sie einzulegen.

Metha konnte sich nicht auf das Empfehlungsschreiben verlassen.

Bis Emmet sie zehn Minuten später mit seinem Lieferwagen abholte, kämpfte sie mit den Tränen. Er ließ den Motor laufen und bat Metha, auf der Rückbank Platz zu nehmen, während er die Kisten im Laderaum verstaute. Schweigend und in endlosen Kreisen fuhren sie durch Finning-Gard, bis sich Metha hinter den getönten Scheiben beruhigte. Als sie an der Klinik hielten, traten eine Krankenschwester und ein Pfleger des Erdgeschosses heraus und halfen ihr beim Hineintragen, in den Fahrstuhl und hinauf ins Büro. Leise und geordnet. Bevor ihre anderen Kollegen kamen, deren Türen an ihrer angrenzten.

Als sie allein in ihrem Büro stand, kühlte sie ihre geschwollenen Augen mit einem Lappen und legte frisches Make-up auf. Sie zog die Vorhänge auf und war bereit für die Fragen und Vorwürfe.

Dachte sie.

Das Klopfen ließ die absichtlich angelehnte Tür aufschwingen und Metha die Luft anhalten.

»Metha?«

Still presste sie sich in ihrem abgedunkelten Büro zwischen das Regal mit Fachliteratur und ihren Umzugskartons. Bei jedem anderen wäre sie gewappnet gewesen, hätte mit Ruhe geantwortet. Doch nicht bei ihr.

»Ich weiß, dass du da bist.« Amber steckte ihren Kopf durch den Türspalt.

Methas Puls stieg.

»Das Schauspiel deines Auszuges ist der neuste Super-Klatsch.« Mit verschränkten Armen blieb Amber im Türrahmen stehen. »Die vom Institut sind sauer, dass du mitten in der Nacht die Stereoanlage voll aufgedreht hast! Sie verlangen von unserem Chef eine Erklärung über dein Verhalten.«

»Wieso?«, brummte Metha und griff nach ihrer Kaffeetasse, die auf der Kiste neben ihr stand.

»Du bist eine der«, Amber schielte in den Flur, als fürchtete sie, jemand könnte ihre Worte hören, »führenden Psychologinnen. Und dann machst du so was? Du hast das Leben der Jäger riskiert!« Sie schüttelte den Kopf. Herablassend blickte Amber auf die Kartons mit ihrem wenigen Hab und Gut. Das vage Grinsen konnte sie nicht unterdrücken. »Den Rauswurf hast du verdient! Dein eigener Vater starb in der Nacht. Du hättest es besser wissen müssen«, rief ihr Amber in Erinnerung, obwohl sie wusste, dass sie damit die Phantomschmerzen weckte.

Starb in der Nacht. Ein freundlicherer Ausdruck für das, was ihm widerfahren war. Und eine Mahnung: verlasse niemals das Zuhause, wenn es dunkel wird.

Das Gespräch machte Metha mürbe. »Was willst du, Amber?«

»Dein Zehn-Uhr-Termin hat abgesagt.«

Die schwangere Henriette und ihr Jäger-Mann.

Metha lehnte sich mit der Hüfte gegen ihren Schreibtisch. »Danke für die Information.« Provokativ langsam nippte sie an ihrem Kaffee. »Noch etwas? Einen Vortrag über Mobbing im familiären Umfeld? Diskriminierung am Arbeitsplatz, weil Familientraditionen nicht gebrochen werden sollten, ich es aber tat? Du kennst meine Geschichte und stocherst mit Freude darin herum. Du bist eifersüchtig, Amber, und gestehst es dir nicht ein.«

Eine steile Falte entstand auf Ambers Stirn. »Sagt eine, die ein Fernstudium machen musste, weil sie nicht gut genug war.«

»Dafür zähle ich jetzt zu den Besten und ruhe mich nicht auf einem Stück Papier aus«, nuschelte Metha in ihre Tasse. »Wenn du mich entschuldigst. Meine Patienten warten.« Sie stellte ihren Kaffee ab und griff nach dem Klemmbrett und den Akten der Patienten, die sie bis zum Mittag besuchen wollte.

»Was bildest du dir ein?«, fauchte Amber. Da sie nicht aus dem Türrahmen wich, drückte Metha die schlanke Frau mit ihrem Körper beiseite.

»Grüß die alten Knacker von mir«, rief Amber ihr hinterher.

Metha bekam Magendrücken. All ihre Sachen standen im Büro. Unbeaufsichtigt und in Ambers Nähe. Ihre Kollegin würde sich nicht herablassen, ihre Habseligkeiten zu durchwühlen. Ihnen beiden reichte das Wissen, dass Amber es jederzeit könnte.

Sie stieg in den Fahrstuhl zum Erdgeschoss und überlegte, ob man sie in ihrem Büro finden würde, wenn sie dort schlief. Häufig war sie die Letzte, die die vierte Etage verließ, und die Erste, die kam, um Abstand von ihrer Familie zu suchen. Metha schüttelte den Kopf. Amber hatte sie auf dem Kieker. Diese Frau würde freiwillig ihr Bauch-Beine-Po-Training auf Treppensteigen spezialisieren, nur um nach ihr zu sehen.

Im Büro die Nacht zu verbringen, war verboten.

Trotzdem blieb ihr keine Wahl.

Morgen früh drohte ihre erste Abmahnung.

Auf ihre vorsichtige Frage zwecks einer zeitweiligen Wohngemeinschaft reagierten nur wenige. Und wenn, mit Ausflüchten.

Metha wusste keine Alternative.

Seufzend strich sie über den tiefen Kratzer neben der Anzeigetafel im Fahrstuhl mit dem Hinweis: Erdgeschoss: geriatrischen Station und Pflegeheim.

Vor zwei Jahren hatte einer der älteren Patienten, ein ehemaliger Jäger, die Angst nicht mehr ausgehalten. Er löste die Verriegelung eines der Fenster, riss es weit auf und öffnete die Türen der Nachbarzimmer. Die Nacht der toten Alten, nannte man diesen … Zwischenfall hinterher. Einige Depressive fanden die Kraft, ihrem Leid ein Ende zu setzten. Das Personal schaffte es nicht, alle Türen zu schließen, die die Patienten öffneten. Metha kannte die Aufnahmen wie jeder Mitarbeiter. Die, die laufen konnten, drängten in das Treppenhaus und verbarrikadierten die Tür. Andere flohen mit dem Fahrstuhl in die obere Etage, wo es sicherer war. Doch eine der Plagen entwickelte überraschend eine Art Eigendynamik und schaute sich ab, wie man den Aufzug bediente. Erste Etage: Chirurgie. Man sprach von Glück, dass die Plage nie die zweite Etage erreichte. Pädiatrie und Entbindungsstation. Seitdem konnte man kein einziges Fenster im Erdgeschoss mehr ankippen. Frische Luft kam nur durch die Lüftung. Metha vermutete, dass die Umbauten nach dem Vorfall kugelsicheres Glas beinhalteten. Nicht wegen der Plage, sondern für die Patienten – damit sie nichts hineinlassen konnten. Zusätzlich stellte die Leitung den Fahrstuhl bei Abenddämmerung ab. Methas Aufgabe war es, den Menschen im Erdgeschoss die Angst zu nehmen. Damit so etwas wie vor zwei Jahren nie wieder geschah.

Mit einem freundlichen »Pling« öffnete sich die Fahrstuhltür und Metha trat in den hellen offenen Korridor, der direkt in den begrünten Hauptaufenthaltsbereich mündete. Säulen und Nischen schufen gemütliche Rückzugsorte für diejenigen, die nicht mehr bei ihrer Familie wohnten. Wegen Krankheit. Oder zu hoher Belastung. Nächtlicher Eigen- und Fremdgefährdung. Die Pfleger und Schwestern taten ihr Bestmögliches, damit sich ihre Schutzbefohlenen wohlfühlten. Die meisten wünschten ausschließlich Ruhe und pünktlich ihre Schlafmittel.

Metha bog nach links zum Schwesternstützpunkt, dessen runder Tresen aussah, als hätte jemand eine transparente Kuppel draufgesetzt. Die Uhr an der Wand ging auf sieben zu. Die meisten ihrer Patienten schliefen noch.

»Morgen. Könnte ich euch um eine Kopfschmerztablette bitten?«

Hinter dem Glas ruckten die Köpfe von zwei Schwestern und einem Pfleger hoch. Die grauhaarige Stationsleiterin erhob sich, kramte im Apothekerschrank nach dem Päckchen und trat mit einer einzelnen Pille zu ihr heraus. »Morgen, Metha. Schlimme Nacht, oder?«

»Seit wann redest du um den heißen Brei, Bekka?« Dankend nahm Metha die Tablette entgegen und schluckte sie trocken herunter. »Mein Stiefvater ist ein Arsch mit Ohren und  –«

»Na, na, na«, unterbrach Bekka sie streng, obwohl ihre Augen lächelten. »Du weißt, man soll nie über Jäger schimpfen. Irgendwann könnte dein Leben ihrer Hand liegen.« Bekka zog sie ein Stück weg zu einem der von innen verstärkten Fenster.

»Da kann ich ja froh sein, dass sie keine Liebesdienste verlangen.« Metha wollte ihre Arme verschränken, doch die Unterlagen waren im Weg.

Bekka blickte hinaus auf die Straße. »Es gab durchaus eine Zeit, in der einige von ihnen genau das forderten.«

Methas Kopf ruckte zu ihr herum, doch die Stationsleitung legte ihr grinsend eine Hand auf den Arm. »Da hat der ganze Rest einfach beschlossen, sie nicht mehr zu beliefern, wenn die Jäger ihnen nicht ebenfalls Liebesdienste oder Arbeitskraft anboten. Emmas Großmutter war mit diabolischer Freude ganz vorn mit dabei. Du erinnerst mich an sie.« Bekka pikte ihr in die weiche Seite. »Zumindest dieser Höhenflug der Jäger verflüchtigte sich binnen weniger Wochen und sie besannen sich auf ihren eigentlichen Kodex: Jedes Leben ist kostbar. Trotzdem hat der Rat diese Eskalation dankenswerterweise in der Chronologie verzeichnet.«

Metha nickte und fragte sich, warum dieser wichtige Teil von Finning-Gards Geschichte nie im Unterricht behandelt worden war. Sie musterte die Stationsleiterin. Ob sie zum Rat gehörte, der alles im Hintergrund organisierte und zusammenhielt?

»Danke für die Tablette, Bekka. Ich muss los.« Metha lächelte zum Abschied und lief in den Gang, in dem die ehemaligen Jäger untergebracht waren. Besonders viele beruhigende Blau- und Grüntöne zierten die Wände. Es gab Tageslichtlampen statt der normalen Glühbirnen und vor den Fenstern in einer Nische standen Ohrensessel, die nicht nach innen gerichtet waren, sondern nach draußen. Metha blieb neben einem von ihnen stehen.

»Morgen, Kleines.« Der alte Humpfray verschwand beinahe in dem Polster. Er richtete den Blick gen Sonne, die über die Schornsteine der Nachbarhäuser zog. »Du bist mit Emmet gekommen, hab ich gesehen.«

»Zwangsläufig.« Kein anderer war bereit gewesen, ihr mit dem Hab und Gut nach ihrer Krawall-Aktion zu helfen.

Metha zog einen Hocker neben Humpfray und setzte sich, zwang sich ein professionelles Lächeln auf die Lippen.

»Emmet hat gestern einen Neuen gebracht«, fuhr der ehemalige Jäger fort. »Weiß so viel wie ein Neugeborenes, der Junge. Bin gespannt, ob er lang genug durchhält, um eingeweiht zu werden.«

Metha nickte stumm und überließ ihm das heutige Gesprächsthema.

»Sie haben dich endlich rausgeschmissen, oder?«

Leider drehte sich das Thema nicht um seine Albträume.

»Endlich?«, hakte Metha nüchtern wie möglich nach und sah den Möwen bei ihrem Flug zu.

»Du passt nicht zu ihnen.« Humpfray richtete sich auf. Sein Rücken knackte.

»Danke«, presste sie trocken heraus.

»Sie haben schon immer dein wahres Potential unterdrückt, statt zu fördern.«

Methas Kinnlade klappte auf. Der alte Humpfray war selbst einer von denen gewesen, die ihre Gewichtszunahme anfangs mit Spott begleiteten. Er hatte ihren Trotz in die Familientradition einzusteigen mit Dummheit und Faulheit gleichgesetzt. Und nun … sprach er für sie?

»Du bist eine wichtige Stütze«, murmelte er und griff nach ihren Fingern. Doch er konnte sich nicht überwinden, ihr dabei in die Augen zu sehen.

»Dankeschön …«

»Nicht nur ich lag falsch, weißt du? Du bist die Beste. Ich hoffe, die anderen werden es früher sehen als ich.«

Stumm blieb sie neben ihm hocken und hielt seine Hand. Ausgemergelt und faltig fühlte sie sich an. Schwach durch den Krebs, der sich durch seinen Körper fraß.

»Man wird demütig, bevor man stirbt.«

Metha nickte und fuhr mit dem Daumen über seinen Handrücken.

»Schweigen hält kaum noch jemand aus. Erst recht nicht Psycholeute. Doch du, Sturkopf, du sitzt es aus. Nicht dieses ständige: ›Wie sind deine Träume, Humpfray?‹«

Metha konnte das Lächeln kaum unterdrücken, so zielsicher ahmte er Ambers hohe Stimme nach.

»Du hättest mich ruhig über deinen Urlaub informieren können, damit ich mich auf diese … Person und ihr Geschnatter vorbereiten kann! Noch mal möchte ich sie nicht in Action erleben!« Ohne Methas Hand loszulassen, lehnte er sich ein Stück weg und musterte sie in ihrer ganzen Fülle. »Vielleicht hast du mit deinem Krach einige Leben riskiert – aber mit Sicherheit ein paar Jäger gerettet! So viele von den Viechern wie letzte Nacht habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Da braut sich was zusammen, Metha.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hätten niemals einen Fremden einladen sollen. Egal, wie gut er im Spiel sein mag, der Junge ist ein Risiko!«

Metha erwiderte seinen Blick. Offen. Ernst. »Ich überlege mir einen Plan, um ihn zu schützen.«

Humpfrays Lachen klang eher nach einem Schnauben. »Du meinst vergraulen

Metha nickte und starrte aus dem Fenster. Hinter ihnen, in der Ferne, hallten Gesprächsfetzen und die Schritte der Schwestern und der Bewohner der anderen Bereiche durch die Gänge. Nur in der Abteilung der Jäger blieb es ruhig. Die meisten von ihnen wachten erst gegen Mittag auf. Viele behielten ihren Nachtrhythmus. Bis auf den von Albträumen gejagten Humpfray. Wegen ihm kam Metha jeden Morgen so früh in die Klinik. In seinen ersten Monaten hatte sie ihn als potentielle Gefahrenquelle eingestuft.

Plötzlich zog Humpfray seine Hand zurück und richtet sein Hemd. »Wo wohnst du jetzt, Kleines?«

»Wir haben schon einmal darüber gesprochen: Kosenamen, so lieb du es meinst, sind unpassend und herabwürdigend.«

»Wo wohnst du?«, wiederholte er stur und mit dunklem Blick. »Obdachlos? Ja. So wie du schaust. Ich gehe raus und lass meine Kontakte spielen.«

Metha hob ruckartig ihren Kopf. »Wie raus? Raus? An die Luft? Seit deinem Einzug hast du dich geweigert, überhaupt den Hinterhof zu betreten!«

Humpfray legte ihr seine knochigen Hände auf die Schultern. »Lass einem Mann die Möglichkeit, eine letzte gute Tat zu vollbringen.« Er stand ächzend auf, zog eine rote kleine Karte aus der Hemdtasche und drückte sie mit Nachdruck auf Methas Unterlagen, die auf ihren Oberschenkeln ruhten. Mit flauem Gefühl im Magen starrte sie darauf.

»Mach’s gut, Metha. Danke, dass du mit deiner Ruhe für mich da warst.« Müde schlurfte er an ihr vorbei.

»Möge die Jagd enden und du Frieden finden«, rief sie ihm die Abschiedsworte nach. Der alte Mann hob nur lässig eine Hand, zwei Finger zum Peace-Zeichen gestreckt.

Der Kloß in ihrem Hals war melonengroß, während sie hinunter auf die säuberlich unterzeichnete Karte blickte. Humpfray hatte etwas darauf gezeichnet, dass drei Schwerter darstellte. Sie schluckte hart und ging zurück zu Bekka, damit sie seine Sachen packen und das Zimmer reinigen lassen konnte.

Humpfray nutzte die rote Karte, die alle ehemaligen Jäger besaßen.

Er hatte beschlossen, auf seine Art zu sterben.

Den Albträumen seiner Vergangenheit entgegenzutreten, anstatt auf sie zu warten.

Einen schnellen Tod dem schleichenden vorzuziehen.

Ein letzter anstrengender Spaziergang hinauf auf den Bergkamm und zusehen, wie die Sonne friedlich hinter Finning-Gard im Meer ertrank, bevor die Plage kam und ihm das Leben entriss. Vielleicht würde ein Teil seiner Familie ihn die halbe Strecke begleiten – aus Würdigung für seine Entscheidung.

Als Metha sich zur Pause in ihr Büro zurückzog, bekam sie kaum einen Bissen herunter.

»Was für einen Sturm erwartest du, wenn du freiwillig vor ihm davonläufst, Humpfray?«



Ende der Leseprobe.


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